Wie geht Begehren?

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Ist Begehren etwas, dass wir einfach so mitgeliefert bekommen oder handelt es sich dabei vielmehr um eine Fähigkeit? Ich denke nämlich, dass es genauso erlernbar ist, wie die Liebe selbst. Oder zumindest auch immer eine Entscheidung braucht.

Die meisten Menschen verwechseln Verliebtsein mit Liebe und unterscheiden somit nicht zwischen Gefühl und Fähigkeit. Das mit dem Begehren verhält sich in meinen Augen ähnlich. Wir können kaum davon ausgehen, dass wir den Partner geschenkt und bis ans Lebensende begehrenswert empfinden. Aber schauen wir genauer, was dem Begehren alles dienlich sein kann. 

Freiwilligkeit

Einer der häufigsten Sätze in meiner Praxis ist: „Mein Mann/meine Frau/wer auch immer übt Druck auf mich aus!“ Gerade wenn einer der Partner mehr Sex will, als der andere, ist das leider ein „übliches“ Procedere. Dass Druck Gegendruck erzeugt und damit genau das Gegenteil bewirkt, wissen wir im Grunde. Emotionen kann man nicht einfordern! Auch wenn es mitunter schwer ist, mit dem fehlenden Begehren des Partners umzugehen oder es gar zu akzeptieren. Nur zu gerne interpretieren wir Zurückweisung oder Ablehnung unserer Person hinein; auf der anderen Seite wollen wir doch auch keinen Partner, der uns falsches Begehren vorgaukelt. Wir halten fest, dass es selbstredend Sinn macht, nach den Ursachen zu forschen, wenn das Begehren längere Zeit ausbleibt, jedoch Freiwilligkeit die Basis für jegliche Entstehung ist.

Augenhöhe

Partner müssen sich auf Augenhöhe begegnen. Auch wenn das nicht permanent ausgeglichen sein kann, muss klar sein, dass es immer Schwierigkeiten gibt, wenn es zu dauerhaften Schieflagen kommt. Eine mögliche Auswirkung sind Machtkämpfe, die nicht immer laut und sichtbar ausgetragen werden müssen, sondern – und das ist noch viel schlimmer! – unterschwellig. Oberflächlich sieht man ein liebes, nettes, harmonisches Paar, bei dem kein böses Wort fällt, aber deren Groll entlädt sich „freundlich“ auf einer passiv-aggressiven Ebene. Ihr Motto: Weil wir uns immer sooo lieb haben müssen (warum auch immer), zahle ich es dir halt so heim! Aber ganz egal, ob aggressiv oder passiv-aggressiv: in diesen Schieflagen-Beziehungen ist echtes Begehren nicht möglich.

Hier darf man bitte nicht vermischen, dass Dominanz und Unterwerfung, als sexuelle Spielart(!) eingesetzt, eine völlig andere Komponente hat. Und dass Partnerschaft und Sexualität nicht immer den gleichen Regeln folgen müssen, beschreibe ich gerne zu einem anderen Zeitpunkt;-). Der Vollständigkeithalber seien auch weitere unausgeglichene Beziehungen, wie die sogenannte Mutter-Sohn bzw. Vater-Tochter-Beziehung hier kurz genannt.

Stabiles Selbstwertgefühl

Wie stehe ich mir selbst gegenüber da? Bin ich zufrieden mit mir, meinem Körper, meiner Entwicklung? Oder zumindest mit meinem Prozess dorthin? Bin ich ein glücklicher Mensch, der seine Bedürfnisse kennt, und für deren Erfüllung ich selbst sorgen kann? Bin ich überhaupt davon überzeugt, dass ein Partner mich begehren kann? Oder gehöre ich zu denjenigen, die von ihren Partnern erhoffen oder gar erwarten, dass diese für meine eigenen Bedürftigkeiten zuständig sind? Hier unterscheide ich übrigens zwischen Bedürfnissen und Bedürftigkeit. Bedürfnisse beinhalten ein Wollen, Bedürftigkeiten ein Brauchen. Und Menschen, die brauchen, können nicht entscheiden. Es fehlt ihnen an echten Wahlmöglichkeiten.

Ein gutes Selbstwertgefühl wird benötigt, um den Partner so zu sehen, wie er ist. Das gilt auch für den Blick auf mich selbst. Niemand wird idealisiert, keiner wird abgewertet. Die Balance zwischen Idealismus und Realität stimmt.

Differenzierungsfähigkeit / Reife

Begehren hat mit Einlassen, Fallenlassen, Gehenlassen, Loslassen, kurzum mit allem LASSEN, also mit Hingabe zu tun. Und Hingabe ist das Gegenteil von Kontrolle. Das kann nur funktionieren, wenn man die Gewissheit besitzt, sich gegenüber des Partners auch abgrenzen zu können. Menschen, die diese Fähigkeit (noch) nicht erlernt haben, schweben in ständiger Angst, sich im Partner aufzulösen oder sich gänzlich zu verlieren. Hingabe wird somit zur Gefahr und vor lauter Unsicherheit, was da alles passieren könnte, begehren viele Menschen einfach gar nicht (außer ganz zu Beginn ihrer Verliebtheitsphase). Jedenfalls stellt sich das Begehren ein, wenn der Umgang mit Grenzen gestört ist. Diese müssen stabil, aber zugleich auch flexibel sein, was kein Widerspruch ist.

Booster Sehnsucht

Warum begehren wir die Dinge, die wir nicht haben, nicht mehr haben oder gar nicht erst bekommen können? Die Antwort ist einfach: Weil wir Menschen sind. Wir müssen lernen mit dem, was wir haben, bewusst, achtsam und wertschätzend umzugehen. Niemand (oder fast niemand) steht doch morgens dankbar auf, weil er schmerzfrei ist oder einfach nur leben darf, aber sobald Wehwehchen oder Schmerzen vorhanden sind, kreist alle Aufmerksamkeit darum.

Machen wir uns bewusst, dass sich die größten (Liebes-)Klassiker in der Literatur auf die unbeantwortete Liebe beziehen. Sie rühren uns deshalb zu Tränen, weil sie sich aus unerfüllter Sehnsucht speisen. Und die hat auf das Begehren großen Einfluss.

Weil wir uns In einer modernen Partnerschaft jedoch nicht dauernd trennen können, nur um Begehren aufkeimen zu lassen, müssen wir darauf achten, dass es ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Nähe und Distanz gibt. Partner brauchen Unterschiedlichkeiten, um eine Einheitssuppe zu vermeiden. Gerade Paare die zusammen arbeiten oder bei denen ausschließlich die Kinder im Fokus stehen, laufen Gefahr, durch fehlende eigene Interessen symbiotisch zu werden.

Es braucht Impulse von außen, damit Spannung entstehen kann. Dadurch wird der Partner wieder auf eine neue Art spürbar, und es öffnet sich der Raum und die Möglichkeit für Erotik und Begehren.

Fazit

So wie Liebe eine Freiwilligkeit braucht, braucht auch Begehren immer eine Wahl, damit es sich entwickeln kann. Je besser das Selbstwertgefühl entwickelt ist, desto ausgeglichener ist die Balance zwischen Nähe und Distanz – die Basis für Begehren. Aber, und das ist vielleicht das Wichtigste: Begehren ist in erster Linie auch immer eine Entscheidung!

 

Foto: © Privat (irgendwo in Südtirol)

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